Sonntag, 3. Oktober 2010

Schokolade und Schrippen

standen über einem Urlaubserlebnis im Jahre 1947. Geplant war die "Reise" Mutter/Tochter, sprich Emilie und Klara in den "goldenen Westen" zur Großmutter im Rheingau. Die Reise verlief zunächst ins Zonenrandgebiet, bis Nordhausen mit der Bahn, dort wurden wir von  Helfern erwartet, die uns in einem Lieferwagen näher an die innerdeutsche Grenze transportierten und auf deren Kommando wir in Richtung Westen laufen sollten. Gesagt, getan - wir marschierten los direkt in die Arme der sowjetischen Grenzsoldaten. Vorbei war der Ausflug. Es ging unter Bewachung zu einem in der Nähe gelegenen Bauernhof, der zur Kommandozentrale umfunktioniert war. In unserer Begleitung war Heiwi, ein 18jähriger Junge, den seine Mutter uns anvertraut hatte. Er wurde getrennt von uns untergebracht, wir im Hof, er irgendwo anders. Ich hatte ein Aktentäschen dabei, in dem die stolze Summe von 500,-- Mark verborgen war. Nach einer Weile - es war vielleicht ein halber Tag - wurden die Menschen der Reihe nach und einzeln einem Offizier vorgeführt, der die Vernehmungen durchführte. Emilie wurde entlassen, verlangte allerdings nach ihrem Kind und Heiwi. Das Kind, nämlich ich, wurde dann auch vorgeführt, das Aktentäschen in der Hand, und es gelang mir, dieses Täschchen mit dem kostbaren Inhalt Emilie zu zustecken. Das Glück war mit uns, wir durften los. Heiwi durfte nicht mitkommen. Trotzdem machten wir uns  auf den Weg, als von einem Zaun her nach uns gerufen wurde. Es war Heiwi, der noch immer gefangen gehalten wurde. Schweren Herzens gingen wir weiter in Richtung Nordhausen, da war wohl der nächste Bahnhof. Dort  wollten wir auf Heiwi, den nächsten Morgen und die Abfahrt des ersten Zuges in Richtung Heimat warten. Spät in der Nacht tauchte  zu unserer großen Freude Heiwi wieder auf. Vielleicht hatte ihm seine schwere Kindheit geholfen, freigelassen zu werden.  Seine Mutter hatte Theresienstadt überlebt, die Kinder mussten unter Tage arbeiten. Heiwi hatte sich in Nordhausen von uns getrennt und hat erneut und mit Erfolg versucht, "schwarz" über die Grenze zu kommen. Irgendwann kamen wir total enttäuscht, beide weinend, wieder zu Hause an. Ich hatte mich so auf die Schokolade des Westens gefreut. Schokolade war für mich in jener Zeit das Gold des Westens. Vater Johannes war ebenfalls entsetzt, als er uns die Türe öffnete, wahrscheinlich hätte er recht gerne einmal ein paar ungestörte Tage gehabt, denn damals waren die Nerven der Erwachsenen ungeheuer angespannt und lautstarke Auseinandersetzungen an der Tagesordnung. Nach langem Überlegen rief er die gute Tante Erna in Berlin an und kündigte unseren sofortigen Besuch dort an. - Von diesem Berlinaufenthalt weiß ich eigentlich nur noch, dass ich morgens beim Bäcker Schrippen holen sollte und erstaunt mit einer Tüte Brötchen heim geschickt wurde. Zwar war ich verwundert jedoch auch hocherfreut, denn der Kauf von Brötchen war für mich seinerzeit eine Sensation, Wir bekamen Brötchen nur, wenn wir das Äquivalent in weißem Mehl zum Bäcker trugen. 

Wen wunderts, dass Vater Johannes einem Freund schrieb: "Klara hat Hunger wie eine neunköpfige Raupe."

Dies fiel mir heute ein, und gerade noch rechtzeitig, denn  heute wird der Tag der Deutschen Einheit gefeiert.

Froh darüber, dass für uns alles gut geworden ist grüßt Klara

Ein Apropos kommt mir in den Sinn, der Aufsatz, den ich vermutlich in der 6. Klasse schreiben musste, hieß: "Warum wünschen wir uns die Einheit Deutschlands". Ich erhielt von daheim vorsichtshalber Schreibeverbot und trug einen von Vater Johannes verfassten Aufsatz zur Schule. Alle meine Klassenkameraden hatten bereits ihre Noten und die Aufsätze zurück. Nur ich musste warten, bis ich zum Schulleiter zitiert wurde, der mir das Heft zurückgab mit den Worten: "Eigentlich müssten wir dir eine Sechs geben, weil du den Aufsatz nicht selbst geschrieben hast. Aber ein solcher Text muss mit Eins bewertet  werden und niemand darf davon wissen." Weiter gab es keinen Ärger. Ich glaube wohl, Johannes wurde ein bestellt.

Und es ist sonderbar, ich kann diesen Text nicht ohne schlechtes Gewissen schreiben, eigentlich sprach man nicht über diese Ereignisse.

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